Dem Ende entgegen (4)

Guten Morgen allerseits,

damit wieder ein bisschen Bewegung in den Blog kommt, hier Teil 4 der Geschichte. Da ich darauf hingewiesen wurde, dass der Begriff Kurzgeschichte für eine Geschichte mit 11 Kapiteln ein bisschen unpassend ist, und ich mir bei der Definition dessen, was eine Novelle ist, auch nicht sicher bin, muss ich mir noch überlegen, was in Zukunft die passende Bezeichnung dafür sein wird.
Ich hoffe es gefällt euch weiterhin,

Mit den herzlichsten Grüßen,
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 4

Kapitel 4

Zögernd und mit Tränen in den Augen ließ Micha den Telefonhörer sinken. Er hatte seiner Mutter nichts gesagt. Das Gespräch war wie immer gewesen, wie so viele, die sie in den letzten Jahren geführt hatten. Ein bisschen was übers Wetter, Mitteilungen, wer in der Verwandtschaft gerade was tat oder mit wem Streit hatte, ein kurzer Bericht darüber, dass es mit der Hüfte seines Vaters langsam wieder aufwärts ging, und dann noch die obligatorische Frage, wie es bei ihm denn eigentlich so lief. Einen kurzen Moment hatte er gestockt, sich gefragt, was wohl passieren würde, wenn er es ihr sagte. Ihr sagte, was er vorhatte. Ein winziger Augenblick des Zögerns, doch der hatte gereicht um den ganzen Mut zunichte zu machen, den er sich für diesen Anruf zusammengekratzt hatte. Er hatte es einfach nicht fertig gebracht, ihre kleine heile Welt so zu zerstören. Es war feige, das wusste er, und es würde für sie wahrscheinlich viel schlimmer sein, wenn ihr im Nachhinein jemand anders diese Nachricht brachte, trotzdem hatte er sich nicht überwinden können. Nach ein paar kurzen Floskeln hatte er das Gespräch beendet und aufgelegt. Seine Hände zitterten und ihm war schlecht, doch wenigstens hatte der Hustenreiz wieder nachgelassen.
Sollte er sich nicht einfach zusammenreißen, nochmal anrufen und es hinter sich bringen? Mit einem flauen Gefühl im Magen streckte er die Hand aus, um zu wählen, ließ sie dann aber wieder sinken. Es war schon zu spät. Jetzt, wo sein innerer Schweinehund einmal gewonnen hatte, fehlte ihm die Selbstdisziplin, die Entscheidung noch zu ändern. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, dann legte er das Telefon aus der Hand.
„Feigling“, sagte er laut, weil niemand anderer da war, der jetzt die Wahrheit aussprechen konnte. Weil es niemandem außer ihm selbst auf der Welt gab, mit dem er sprechen wollte. Langsam stand er von seinem Küchenstuhl auf, lief ins Schlafzimmer und zog sich ohne zu duschen frische Klamotten an. Körperhygiene spielte jetzt keine übergeordnete Rolle mehr in seinem Leben. Eine dunkelblaue Jeans und ein schwarzes T-Shirt, darüber ein schwarzer Wollpulli – die Klamotten passten wirklich prima zu seiner Stimmung der letzten Tage.
Während er sich dick einpackte, um der Kälte draußen standzuhalten, verabschiedete er sich in Gedanken von seiner Wohnung. Er würde nicht mehr herkommen, nie mehr. Sie konnte ruhig so unaufgeräumt bleiben, was interessierte es ihn schon, wie andere Menschen in Zukunft über seinen Ordnungssinn denken mochten. Er war schon zur Tür hinaus, da hielt er inne und lief noch einmal zurück. Neben dem Bett lag noch immer der Zettel aus der Klinik. Micha bückte sich und steckte ihn in die Hosentasche. Möglicherweise würde er den noch brauchen. Dann machte er sich auf den mühsamen Weg zur U-Bahn, für den er früher immer nur ein paar Minuten gebraucht hatte. Er wusste nicht was ihm mehr Energie geraubt hatte: Der Krebs oder die Tatsache, dass er jetzt wusste, dass er Krebs hatte. Dennoch musste er heute einfach noch etwas unternehmen. Auf den Zoo freute er sich schon richtig, vielleicht würde er dort auch sein schlechtes Gewissen wegen dem Telefonat mit seiner Mutter besser verdrängen können.
Die U-Bahn kam geräuschlos in den Bahnhof gefahren. Nur eine Handvoll Leute warteten hier, der abendliche Verkehr hatte noch nicht wieder angefangen. Die meisten Berliner saßen vermutlich irgendwo in einem Café oder schon in einer Kneipe, wenn sie heute überhaupt das Haus verließen. Micha stand mit den Händen in den Taschen da und fror trotz der scheinbar milden herbstlichen Temperaturen. Zumindest war von den Leuten um ihn herum niemand besonders dick angezogen, oder wirkte als würde er frieren. Als die Bahn hielt, stieg Micha ein und setzte sich in das nächste der langgezogenen Abteile. Die Türen schlossen sich und der Zug beschleunigte augenblicklich. Die mit Kunstfell gepolsterten Sitzbänke waren bequem und noch nicht zu sehr durchgesessen, nur farblich war dieser Zug nicht besonders gut geraten. Das Dunkelrot der Wände passte zwar zum dunklen Boden, aber das ausgeblichene Grün der Polster ließ den Zug alt und ein bisschen schimmlig wirken. Es war vermutlich ein älteres Modell. In diesem Abteil saßen nur zwei andere Leute. Eine junge blonde Frau las in einem zerfledderten Roman und wippte mit ihrem Fuß im Takt zur Musik, die aus ihren überdimensionierten Kopfhörern drang. Neben ihr saß ein Mann, den Micha auf Mitte 40 schätzte. Der Anzug, den er trug, fiel sofort ins Auge. Er war komplett schwarz und saß so perfekt, dass er maßgeschneidert sein musste. Das Material sah sehr teuer aus. Der Mann hatte kurze, schwarze Haare, zwischen denen allerdings schon die ersten grauen Strähnen zu erkennen waren. Sein Gesicht wirkte kantig, aber nicht unfreundlich. Die vielen Falten und tief eingegrabenen Augenringe ließen darauf schließen, dass er sich in seinem Leben nicht viel Ruhe gegönnt hatte. Micha war überrascht. Wenn er sich nicht irrte, saß er hier mit einem Professor oder irgendeinem anderen hohen Tier in einem Abteil, so etwas war ihm noch nie passiert. Auf jeden Fall musste es jemand sein, der in seinem Leben viel gearbeitet hatte. Micha hatte schon seit Jahren niemanden mehr gesehen, der so erschöpft aussah. Die meisten von ihnen nutzten nur die Taxis, vermutlich um nicht mit dem ungebildeten Pöbel in Berührung zu kommen. Doch irgendetwas passte nicht an diesem Mann. Ihm fehlte die typische Mischung von Stolz und Arroganz, die seinesgleichen normalerweise umgab. Er wirkte traurig, fast schon zerbrechlich. Seien Hände spielten nervös mit etwas silbernem. Bei genauerem Hinsehen erkannte Micha, dass es eine Münze war. Er drehte sie immer wieder in seiner Hand, ließ sie über seine Fingerknöchel wandern und danach eine Weile zwischen Daumen und Zeigefinger rotieren. Das wiederholte er wieder und wieder.
Während Micha noch überlegte, was es mit dieser Münze wohl auf sich haben konnte, nahm der Zug eine scharfe Kurve und dem Mann rutschte die Münze aus der Hand. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie zu Boden. Der Mann im Anzug hechtete ihr sofort hinterher, während sie über den Boden kullerte, als handele es sich um einen Gegenstand von unschätzbarem Wert. Doch der Zug war zu schnell für solche Manöver. Er verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Die Frau mit den Kopfhörern sah kurz auf, widmete sich dann aber sofort wieder ihrem Roman ohne eine Miene zu verziehen. Micha sah die Münze vorbeirollen, griff zu und erwischte sie gerade noch rechtzeitig. In diesem Moment wurde der Zug langsamer, sie fuhren wohl wieder in einen Bahnhof ein. Während er noch einen kurzen Blick auf die Münze warf, stand Micha auf. Er musste sich am Geländer an der Decke festhalten, um nicht ebenfalls hinzufallen. Er streckte seine Hand aus und half dem Mann auf die Beine, dann gab er ihm seine silberne Münze zurück.
„Danke. Vielen Dank!“, sagte der Mann und lächelte dankbar. Micha nickte ihm einfach nur zu. Der Mann stand noch etwas wacklig auf den Beinen. Er wirkte verlegen und zerstreut. Während er sich nun ebenfalls mit einer Hand am Geländer festhielt, klopfte er sich mit der anderen den Staub von seinem Anzug, den er durch seine Bruchlandung aufgesammelt hatte. Als die Türen sich öffneten, stieg er sofort aus.
Micha nahm wieder Platz. Auf der Münze war das Profil einer Frau abgebildet gewesen, soviel hatte er gesehen. Gerne hätte er den Mann, der offensichtlich noch nie mit der U-Bahn gefahren war, gefragt, wer er war, und was es mit der Münze auf sich hatte, doch der Mann war zu schnell weg gewesen. Vielleicht war die Münze ein Erbstück, oder es war seine Freundin, Geliebte oder Ehefrau, die darauf abgebildet war. Er würde es nie erfahren.
Ihm wurde klar, dass er gerade das erste Mal seit Tagen nicht über die Diagnose, nicht über den Krebs nachgedacht hatte. Ihm kam der Gedanke, dass es wahrscheinlich nicht allzu klug gewesen war, sich die ganzen letzten Tage allein in seiner Wohnung zu verbarrikadieren. Zwar hätte es vermutlich nichts an seiner Entscheidung geändert und schon gar nicht an der Diagnose, aber der Sog des Selbstmitleids hätte ihn wohl weniger stark ergriffen, wenn er sich mehr unter Leute begeben hätte. Wenn er sich mit jemandem über das unterhalten hätte, was sich da in seinem Innersten zusammenbraute.
Am Bahnhof Zoo stieg Micha aus der Bahn und lief nach draußen, seine Gedanken schwankten zwischen seinem Selbstmitleid und Neugier, warum der Mann mit der Münze wohl so traurig ausgesehen hatte. Er nahm einen tiefen Atemzug von der kühlen Herbstluft und spürte im selben Moment, dass das keine gute Idee gewesen war. Augenblicklich fing er wieder an zu husten. Es schmerzte höllisch in seinen Lungen und er brauchte all seine Kraft und Konzentration um sich ein Stück von den Leuten um ihn herum weg zu schleppen. Er wollte nicht, dass jemand sah, dass er Blut spuckte.

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