Hinter verschlossenen Türen (9)

Hinter verschlossenen Türen – PDF

9.  Kapitel

Der Augenblick des Sprungs zog sich vor Peters Augen ins Endlose. Seine Gedanken zuckten immer wieder zu dem Moment, als beim letzten Mal alles schiefgegangen war. Der Plan war gewesen, im Warenlager P3-Süd von Sony eine Charge wertvoller Laptops zu stehlen, für die Adamo einen Abnehmer hatte, der bereit war, gut zu bezahlen. Die Laptops waren noch nicht im Handel erhältlich und würden an Geschwindigkeit alles bekannte weit in den Schatten stellen. Er hatte Wochen mit der Plaung verbracht, ein Team zusammengestellt und alles abgesichert, doch am Tag vor dem Job hatten Adamo und Alessio ihm mitgeteilt, dass sich die Pläne geändert hätten. Ein kleineres Team, mehr Risiko, weniger Ausrüstung – alles in allem weniger Kosten. Jeder Versuch sie zu überzeugen war fehlgeschlagen und er hatte den Fehler gemacht, sich darauf einzulassen. Die beiden hatten es irgendwie geschafft Lisa-Marie davon zu überzeugen, ohne die geplanten Sicherungen, ohne zusätzliches Equipment zu arbeiten. Trotz allem war der Anfang großartig gelaufen. Über die Zäune kommen, aufs Dach klettern, durch die Dachluke rein. Dann war Lisa-Marie dran. Sie musste in 25 Metern Höhe über die Stahlträger des Daches balancieren und immer von einem zum anderen springen um zum Sicherungskasten klettern zu können ohne Alarm auszulösen. Zwei Sprünge liefen problemlos. Bei Sprung Nummer 3 rutschte sie bei der Landung mit dem linken Fuß ab und stürzte in die Tiefe. Ein Teil des Equipments um dass sich Alessio und Adamo gedrückt hatten, hätte ihren Sturz abfangen sollen im Notfall, doch so gab es kein Seil das sich straffte, nichts, das sie hielt. Sie fiel einfach außer Sicht. Mit Entsetzen hörte Peter den Aufschlag, hörte, wie der Alarm auslöste.
Laut Protokoll gab es nur zwei mögliche Varianten. Mit Plan B weitermachen und versuchen, den Job noch zu beenden oder sofortiger Rückzug. Er entschied sich für die dritte und wartete einfach ab. Paralysiert blickte er hinab, bis plötzlich mehrere Dinge auf einmal geschahen. Sein Bruder, der hinter Peter an der Luke gewartet hatte, bewegte sich nach draußen und sprang, um noch vor dem Eintreffen der Polizei wegzukommen einen Teil des Abstiegs, über Funk befahl Adamo seinen Leuten den sofortigen Rückzug ohne Rücksicht auf Verluste, und Peter nahm an einem der Container in der Halle eine Bewegung war. Lisa-Marie kletterte dort. Scheinbar hatte sie im Fall irgendwie den Container zu fassen gekriegt und der Aufprall, den er gehört hatte, war das Krachen an dessen Metallwand gewesen, nicht der Aufschlag auf dem Boden. Als sie ihn sah gab sie Peter ein Zeichen das alles in Ordnung war und begann sich zu einer der Seitentüren zu hangeln, die für ihre Flucht vorgesehen gewesen waren. In dem Wissen, dass es ihr gut ging, stieg Peter wieder den Weg an der Außenseite der Halle hinunter, den er gekommen war.
Er sah seinen Bruder humpelnd weglaufen, hörte die Schüsse und sah, wie er zu Boden fiel und reglos liegen blieb. Peter konnte es nicht glauben. Er rannte zu ihm, sah das Blut und konnte nichts tun. Plötzlich war er von Gewehrläufen umgeben. Er wurde festgenommen und abgeführt.

Noch immer sah er vor seinem geistigen Auge Lisa-Marie fallen, hörte die Schüsse auf seinen Bruder und spürte die Wut, die all das in ihm ausgelöst hatte. Lisa-Marie war entkommen, doch man hatte sie wenige Tage später geschnappt, ebenso wie ein paar weitere seiner Team-Mitglieder. All das flutete sein Gehirn während der Sekunde, die sich Lisa-Marie in der Luft befand. Doch diesmal gab es keinen Fall, keine Eskalation. Sie landete auf der Theke, exakt so wie sie es geplant und trainiert hatte und hielt dort für einen Moment zusammengekauert inne. Peter zeigte ihr den nach oben gestreckten Daumen. Sie drehte sich um und beugte sich ein Stück Richtung Schaltpult. Ihr Knöchel blieb an dem kleinen Blumentopf mit dem Kaktus hängen und ihr entfuhr ein leises Ächzen als der Kaktus seine Stacheln in ihrem Bein hinterließ. Sie warf Peter und Lewandowski einen ängstlichen Blick zu, doch Lewandowski winkte ab. Der Alarm war nicht angesprungen. Er hielt zwei Finger hoch. Also schätzte er, dass sie noch zwei Minuten hatten, bis es ernst wurde.
Lisa-Marie besah sich das Schaltpult und machte sich an seiner Seite zu schaffen. Sie legte behutsam zwei Kabel frei, holte eine kleine Zange hervor, zog die Kabel vorsichtig aus ihren Verbindungen und legte die Kontakte aneinander. Ein winziger Funke sprang über. Sofort erloschen die Lichtschranken. Peter betrachtete die Dioden auf der Schalttafel.
»Es hat geklappt. Fluffy, du bleibst hier und schiebst Wache. Ich rufe dich, wenn wir dich brauchen.«
Gemeinsam mit Lewandowski ging er auf den Schrank zu hinter dem sich der M-Droid verbarg. Lisa-Marie stieg von der Theke und schloss sich ihnen an. Eigentlich hätte Skinny Wache schieben müssen, aber so wie es jetzt stand konnte er Fluffy besser entbehren als Lewandowski. Peter zog die Schublade auf, in der sich das Touchpad verbarg, das den Zugang zum M-Droid regelte. In wenigen Sekunden würde er ihn in den Händen halten und den Abgang antreten. Es war besser gelaufen als er befürchtet hatte. Er aktivierte das Touchpad und drückte die Schaltfläche um den M-Droid auszufahren.
»Lewandowski, guck dir das hier Mal an. Ich dachte, das Steuersystem ist nicht extra geschützt.«
»Ist es auch nicht.« Lewandowski blickt ihm über die Schulter. »Oh.«
Das System forderte eine Passworteingabe von vier Ziffern. Lewandowski probierte ein paar Kombinationen aus.
»Okay, es ist weder sein Geburtsdatum noch das seiner Frau.«
Er zog den Mund kraus, während er nachdachte.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Lisa-Marie. »Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
In ihrer Stimme schwang Angst. Auch sie wollte um nichts in der Welt zurück ins Gefängnis. Da schlich sich ein Grinsen auf Lewandowskis Gesicht. Er drehte sich zu Peter. »Ruf mal deinen Staatsdiener her.«

Als Fluffy vor ihnen stand, fragte Lewandowski: »Können deine Finger Touchscreens bedienen.« Fluffy nickte stumm.
»Dann zeig mal, was deine Hände hergeben. Wir brauchen alle vierstelligen Zahlen, zuerst die, die mit 20 und 21 anfangen, danach alle, die sonst klassische Kombinationen für Passwörter sind. Und das so schnell es geht.«
Fluffy nickte erneut, stellte sich an das Touchpad und begann mit einer Hand in einem Tempo zu tippen, das Peter schwindlig machte.
»Die Kiste scheint Fehleingaben zu tolerieren«, sagte Lewandowski grinsend. »Da hat sich jemand wenig Mühe gemacht.«
»Woher wusstest du, dass er das kann?«, fragte Lisa-Marie mit einem erstaunten Blick auf Fluffy, der schon jetzt etliche hundert Kombinationen probiert hatte.
»Ich habe bei einer Besprechung mal eins von diesen Modellen tippen sehen, daher kam die Vermutung. Sie werden meist auf menschliches Maß gedrossel,t um uns nicht zu verunsichern, aber ihr Potential liegt weit höher.«
»Und wieso die 20er und 21er – Zahlen zuerst?«
Lewandowski grinste noch breiter. »Auch Genies müssen sich Passwörter merken. Wenn er schon zu faul war, eine ordentliche Passwort-Funktion zu bauen war er vielleicht auch zu faul für ein ordentliches Passwort. Bis jetzt ist übrigens laut Kameras keine Polizei in greifbarer Nähe.«
Nach ein paar weiteren Sekunden hielt Fluffy inne und sie hörten ein metallisches Klicken.
»Was war das Passwort, Fluffy?«, fragte Lewandowski, dann schüttelte er den Kopf. »Ach, ist eigentlich auch egal. Beeilen wir uns lieber.«
Langsam schwangen die Türen des Schrankes vor ihnen auf und ein großer Glaskasten fuhr heraus. Peter fluchte laut und drehte sich zu Lewandowski.
»Was haben wir denn noch alles übersehen? Es war nie die Rede davon, dass das Ding hinter Panzerglas ist. Wir haben nichts dafür hier, wir…«
Aber Lewandowski bedeutete ihm, zu Schweigen.
»Entspann dich. Die Uni spart noch immer wo sie kann. Das ist kein Panzerglas, sondern ein Schaukasten.« Er drückte gegen eine der Glaswände, die sogleich nach vorne schwang. Da lagen sie. Der Würfel, die Murmel und die Platine. Jetzt war es an Peter zu grinsen. »Dann machen wir mal, dass wir hier wegkommen«, sagte er. »Es läuft alles nach Plan weiter.« Die beiden anderen nickten. Er verstaute die Teile des M-Droid in seiner Tasche, gab Lisa-Marie einen flüchtigen Kuss und lief Richtung Ausgang. Da erklang hinter ihm eine Stimme.
»Halt! Hiermit verhafte ich sie wegen des Diebstahls von Regierungseigentums der Sicherheitsstufe F.«
Peter blickte sich um und rechnete für einen Augenblick mit einem Scherz von Lewandowski. Dann sah er die Waffe, die auf den Raum zwischen ihm und Lewandowski gerichtet war. Fluffy hatte den Finger am Abzug. Weit weg von jedem Scherz.
»Lauft!«, brüllte Peter, und alle drei machten zeitgleich Anstalten loszurennen. Ein Schuss fiel und Peter hörte, wie Lewandowski einen entsetzten Schrei ausstieß. Lewandowski betrachtete für einen kurzen Moment die Wunde in seiner Brust, als könnte er es nicht glauben, dann drehter er sich um und rannte mit Wutgebrüll auf Fluffy zu. Im Rennen riss er einen Gegenstand aus seiner Hosentasche. Dann stürzte er sich auf Fluffy, der nicht gleich reagierte. Peter sah, dass auch Lisa-Marie zögerte, er schrie sie an, dass sie abhauen solle. Endlich lief sie aus dem Raum. Peter rannte zu Lewandowski, der noch immer mit Fluffy rang. Trotz seiner Wunde kämpfte Lewandowski mit aller Kraft. Er hatte einen kurzen Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt, doch jetzt nutzte der Androide seine volle Stärke und drückte ihn zu Boden. Lewandowski streckte die Hand nach Peter aus. Er schien zu wissen, was folgen würde. Fluffy hielt seine Pistole an Lewandowskis Kopf. In diesem Moment erkannte Peter, dass die ausgestreckte Hand keine um Beistand flehende Geste war, Lewandowski wollte ihm etwas geben. Blitzschnell sprang Peter nach vorne, nahm ihm den kleinen Taser ab und presste ihn in Fluffys entblößten Nacken. In dem Moment, als er den Auslöser drückte, tat Fluffy dasselbe. Die beiden sackten zu einem regungslosen Haufen zusammen. Peter wusste augenblicklich, dass es für Lewandowski keine Hoffnung mehr gab, und er wusste auch, dass es jetzt um Sekunden ging. Er rannte nach draußen. Er hörte schnelle Schritte, drehte sich um und rannte so schnell er konnte in die entgegengesetzte Richtung. Es tat ihm unfassbar Leid um Lewandowski und darum, dass er ihn so liegen lassen musste, aber nochmal in den Knast zu gehen war keine Option. Im Rennen zog er sein Handy und drückte eine kurze Tastenfolge. Eine automatisierte Nachricht wurde an ihr gesamtes Team in und um den Campus gesendet, um den Rückzug anzukündigen. Plötzlich begannen überall Touristen aus Versehen vor Polizeiautos zu stolpern, die nicht anders konnten, als zu bremsen. Verwirrte Studenten blockierten die Eingangsbereiche und Durchgänge und erschwerten den Cops wo es nur ging die Arbeit. Das würden sie tun, bis Peter das nächste Signal absetzte. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein Bein und er musste einen Schrei unterdrücken. An Rennen war nicht mehr zu denken. Wenige Meter entfernt war eine Sitzgruppe, auf der er sich kurz niederließ, um durchzuatmen. In diesem Augenblick waren erneut Schritte zu hören, doch er wusste, dass er sich nicht schnell genug verstecken konnte, also blieb er einfach sitzen und senkte den Blick auf sein Handy. Nur ein Tourist, der sich einen kurzen Überblick verschaffte. Zu seinem Glück rannten die vier Polizisten an ihm vorbei. Er biss die Zähne zusammen und raffte sich erneut auf. Nochmal würde er so viel Glück nicht haben. So humpelte er Gänge und Treppen entlang so gut es ging und schaffte es schließlich nach draußen, kurz bevor die Uni von der Polizei abgeriegelt wurde.

Eine gute Stunde später fand sich Peter mittlerweile etwas erholt am Potsdamer Platz ein. Auch hier war alles dicht gedrängt, die Feierlichkeiten waren gut besucht. Auf einer Bühne spielte eine Band ruhige Blues-Nummern. Alessio und Adamo hatten auf diesen öffentlichen Treffpunkt bestanden um nach der Übergabe leicht in der Menge untertauchen zu können. Peter zog sein Handy hervor, wählte eine Nummer und hielt es sich einen Moment ans Ohr. Dann nickte er  nur kurz, sagte aber nichts und steckte das Handy wieder ein. Ein Betrunkener rempelte ihn an und fragte ihn nach dem Weg zur Toilette. Als Peter auf das Schild über ihren Köpfen wies, klopfte ihm der Mann dankbar auf die Schulter und zog Leine. Peter drängte sich durch die Menschenmenge bis er die beiden Brüder sah, die erstaunlich fehl am Platz recht steif mitten in der belebten Menge standen und warteten. Peter stellte sich zu ihnen.
»Lief alles glatt?«, fragte Adamo.
»Lewandowski ist tot«, sagte Peter und sah einen Sekundenbruchteil ehrliches Erstaunen in Adamos Augen. »Auf der Flucht erschossen. Aber der Job hat geklappt.«
Bevor einer der Brüder irgendeinen halbgaren Kommentar dazu abgeben konnte zog Peter die drei Teile des M-Droid hervor und präsentierte sie den beiden. In der Sekunde, in der Adamo mit beiden Händen die Bauteile umfasste, schloss sich ein fester, metallischer Griff um sein Handgelenk. Plötzlich war die Menge um sie herum durchsetzt von Polizisten. Peter hörte die beiden Brüder laut fluchen während ihnen Handschellen angelegt wurden. Er drehte sich um und stellte beruhigt fest, dass die Cops sich an ihren Teil des Deals hielten. Er konnte unbehelligt davonhumpeln, während inmitten der dichten Menschenmenge zwei seit langem gesuchte Kriminelle kurz nacheinander zusammensackten. Von Tasern betäubt wurden sie von Polizisten weggebracht, aber das sah Peter schon nicht mehr. Er zog sein Handy aus der Tasche, schaltete es ab und ließ es auf den Boden fallen. Kaum jemand nahm Notiz, weder von ihm noch von der Festnahme.

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