Dem Ende entgegen (7)

Einen wunderschönen guten Tag,

es geht weiter mit Teil 7 der Geschichte „Dem Ende entgegen“. Ich freue mich sehr über Feedback,

Fühlt euch gegrüßt

Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 7

Kapitel 7

Es war kaum zu glauben, wie schön sie aussah. Pure Perfektion. Tim strich mit den Fingern über das Foto und versuchte, sich an den Moment der Aufnahme zu erinnern. Das Bild war jetzt ungefähr ein Jahr alt. Er hatte es in seinem letzten gemeinsamen Urlaub mit Helena gemacht, an einem wunderschönen Strand auf Bali. Darauf saß sie am Rand einer kleinen, brüchigen Steinmauer, hinter ihr das Meer und der helle, feinkörnige Sandstrand. Das tiefrote, enge Kleid betonte ihren schlanken Körper, die braunen Haare wurden vom Wind leicht zur Seite geweht und sie lächelte verführerisch. Aber wo genau war das Bild entstanden? Schon jetzt begannen seine Erinnerungen zu verschwimmen.
Vor dem Urlaub hatte es ein paar kleine Streitereien gegeben, dass er ihr zu wenig seiner Zeit widmete, sie kaum noch was miteinander erleben würden, deswegen hatten sie ja letzten Endes überhaupt Urlaub gemacht. Aber womit hatten sie sich in den zwei Wochen die Zeit vertrieben? Er konnte sich an die Strände erinnern, an eine alte verfallene Kirche und grob an ihre Unterkunft in einem frisch renovierten, nobel eingerichteten Hotel direkt am Strand. Aber die Namen und passenden Bilder der Orte und Sehenswürdigkeiten, denen sie einen Besuch abgestattet hatten, waren wie ausgelöscht. Was er noch wusste, war, dass sie in einer Stadt namens Denpasar gelandet waren und dort auch ihre erste Nacht verbracht hatten. Das Foto vor ihm musste später entstanden sein, am ersten Tag waren sie nur ganz kurz am Strand gewesen. Tim blätterte eine Seite des dicken Fotoalbums um. Es war schon sehr alt und abgewetzt, vollgestopft mit Fotos von seiner frühesten Kindheit und Jugend bis heute. Er und Helena hatten sich gerade in den ersten Jahren ihrer Ehe viel Mühe mit den verschiedenen Kapiteln gemacht, alle neuen Fotos gedruckt, eingeklebt und beschriftet, die es wert gewesen waren. Ein richtiges Fotoalbum war schon etwas anderes als die digitalen Bilderrahmen, auf denen die Fotos einfach nur durchliefen. Tim hätte auch immer gerne eins der kleinen farbigen Hologramme von sich und Helena gehabt, die man in jeder größeren Stadt anfertigen lassen konnte, aber wegen der hohen Kosten hatten sie es immer wieder vor sich her geschoben. Nun war es zu spät. Helena war weg. Für immer.
Heute waren es auf den Tag genau drei Wochen, seit er es erfahren hatte. Der Gedanke an diesen Moment ließ den Schmerz des Augenblicks jedes Mal aufs Neue in ihm aufsteigen. Es hatte ihn eine Menge Kraft gekostet, nicht auf der Stelle vollkommen den Verstand zu verlieren. Vielleicht hatte er auch ein Stück weit den Verstand verloren, in manchen Momenten der vergangenen drei Wochen war er sich seiner geistigen Gesundheit nicht zu hundert Prozent sicher gewesen.
Die Türklingel hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen, als er am Morgen nach der Trennung und Helenas plötzlichem Auszug gerade in der Küche versucht hatte, seinen Kater in den Griff zu bekommen. Nach einer unruhigen Nacht und so viel Alkohol waren zwei Stunden, bis er im Anzug vor ein paar hundert Studenten zu stehen und interessant und möglichst gut gelaunt Wissen zu vermitteln hatte, zwar knapp bemessen, aber auch kein Ding der Unmöglichkeit. Er hatte sein Frühstück aus der Hand gelegt und war mit hämmerndem Schädel zur Tür gelaufen.
Dort stand ein humanoider Roboter, ein Mann der fast ebenso groß war wie Tim, mit einem ausdruckslosen, ernsten Gesichtsausdruck. Die richtig teuren, neuen Modelle waren nur noch mit Mühe von echten Menschen zu unterscheiden. Vor ein paar Wochen hatte Tim, der an der Uni oft mit der modernsten Technik konfrontiert wurde, bei einer großen, langbeinigen Schönheit, die ihm auf dem Flur entgegen gekommen war, erst nach dem Barcode am Ringfinger ihrer rechten Hand Ausschau halten müssen, um sich sicher zu sein, dass er es nicht mit einem echten Menschen zu tun hatte. Das Modell, das jetzt auf seiner Türschwelle stand, war offensichtlich schon ein paar Jahre älter, allerdings gut in Schuss, fast ohne Abnutzungserscheinungen und geschmackvoll in einen grauen, perfekt sitzenden Anzug gekleidet. Die Haut war einen Tick zu bleich für einen echten Menschen, die Gesichtszüge noch einen Tick zu kantig. Welcher Baureihe er wohl entstammte? All diese Gedanken schossen Tim in den ersten zwei Sekunden nachdem er die Tür geöffnet hatte durch den übermüdeten Kopf. Dann sah er den Brief, den ihm der Android entgegen hielt. Ein schwarzer Umschlag. Tim starrte darauf, während Panik seinen Körper flutete. Natürlich wusste er, was das bedeutete, doch das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
Vor wenigen Augenblicken, als es an der Tür geklingelt hatte, war ein kleiner Funken Hoffnung in ihm aufgekeimt. Hoffnung, vor der Tür würde Helena stehen, und sie könnten nochmal in Ruhe miteinander reden. Gestern hatte ihn die Situation überrumpelt, aber nun, nachdem er die ganze Nacht über Zeit gehabt hatte, hätte er ganz genau gewusst, was er ihr sagen wollte, wie er sie umstimmen konnte. Und nun hielt ihm diese Maschine stumm den Brief hin. Ohne sich zu bewegen. Ohne zu zwinkern. Ohne auch nur ein verständnisvolles oder mitfühlendes Wort zu sagen.
Mit zitternden Fingern nahm Tim ihm den Brief aus der Hand und schloss die Tür. Niemand konnte ihn zwingen, den Brief zu öffnen. Solange er nicht hinein sah, war es auch möglich, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Auch wenn es sich nicht bestreiten ließ, dass es sein Name und seine Adresse waren, die da in feinen weißen Lettern auf dem Umschlag standen.
Er ließ sich in seinen Sessel im Wohnzimmer sinken und drehte den Brief immer wieder in den Händen, betrachtete ihn von allen Seiten. Ein paar Minuten saß er einfach so da, gedankenverloren, voller Angst und Zweifel, und gleichzeitig zu feige, den Brief zu öffnen. Es hatte keinen Zweck. Er konnte jetzt nicht davonlaufen, nicht so tun, als wüsste er nicht, was es mit dem schwarzen Umschlag auf sich hatte. Tränen liefen seine Wangen hinunter, als er mit seinen zittrigen, schweißnassen Fingern den Brief aufriss und ein einzelnes Blatt Papier herauszog. Die Worte waren in derselben, feinen Schrift gedruckt, die auch schon den Umschlag geziert hatte.

Sehr geehrter Herr Fischer,
es tut uns sehr leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Frau Helena Fischer am Abend des 17.Oktober diesen Jahres bei einem Autounfall zu Tode gekommen ist.
Der Unfall ereignete sich an der Rudi-Dutschke-Straße, Ecke Rodmanstraße. Dabei starben noch drei weitere Menschen, zwei wurden schwer verletzt.
Über alles Weitere werden Sie in den nächsten Tagen schriftlich informiert.

Herzliches Beileid

Jetzt lag der Brief ganz hinten eingeklemmt im Fotoalbum. Er trug den Briefkopf und das Wappen des Landes Berlin. Drei Wochen war es her, dass Tim ihn bekommen hatte. Es hatte ihm die Luft zum Atmen genommen. Seitdem war er mit Müh und Not durch das Leben getaumelt. Alles war so weit weg, als trennte ihn eine unsichtbare Wand vom Rest der Welt. Alles andere war irrelevant, geradezu lächerlich geworden.
Dieser Brief war so furchtbar kalt und knapp. Ein typisches, computergeneriertes Schreiben. Tim hatte in seinem Leben mehrere dieser schwarzen Umschläge überbracht bekommen, als seine Großeltern gestorben waren, seine Eltern, aber nie zuvor hatte er realisiert, wie unglaublich distanziert diese Standard-Briefe eigentlich waren.
In den drei Wochen hatte er ihn mehrere hunderte Male gelesen, genau wie alles andere, was er in den Tagen danach an Material über den Unfall hatte finden können. Zeitungsartikel, Ermittlungsberichte, all das war vollautomatisch aus den Fakten erstellt worden, die zur Verfügung standen. Soweit er das beurteilen konnte, war Helena zu schnell gefahren und mit einem Audi zusammengestoßen, als dieser ihr die Vorfahrt genommen hatte. Er hätte nicht zulassen dürfen dass sie selbst fährt, so aufgewühlt wie sie gewesen war. Es war auch seine Schuld, dass Helena jetzt nicht mehr am Leben war.
Er hatte die Formalitäten erledigt, ihre Beerdigung durchgestanden, war zu seinen Vorlesungen gegangen und hatte kaum Schlaf und keine Ruhe gefunden. Tag für Tag hatte er jeweils das Nötigste abgearbeitet und dabei die ganze Zeit nur an Helena gedacht. An sie und daran, dass er mit Schuld an ihrem Tod war. Nächtelang, war er wach gelegen, hatte geweint, geschrien, die Decke angestarrt. Nichts hatte den Schmerz, der sein Innerstes zerfraß, auch nur um eine winzige Nuance verringert. Erst seit er den Termin für den heutigen Abend ausgemacht hatte, ging es ihm eigentümlicher weise ein kleines bisschen besser.
Es war schmerzhaft die Fotos im Album anzusehen, all diese Erinnerungen an glücklichere Zeiten, aber er hatte es sich für heute fest vorgenommen, das ein letztes Mal zu tun und so bedrückend es einerseits auch war, Helenas wunderschönes Lachen auf den Fotos zu sehen, so war es doch andererseits auch schön, daran zu denken, dass es glücklichere Tage gegeben hatte.
Nach den Fotos aus Bali endete das Fotoalbum mit dem schwarzen Umschlag, der ihm die traurige Nachricht überbracht hatte. Tim klappte das Album zu und sah auf die Uhr. In den letzten Wochen war die Zeit stets so zäh vergangen, heute schien sie dafür regelrecht zu verfliegen. Es war schon fünf nach Sieben. Zeit zu gehen, wenn er nicht zu spät zu seinem Termin kommen wollte.
Er stand auf, nahm sich seine Jacke und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Darum, was mit seinen Hinterlassenschaften werden würde, hatte er sich nicht gekümmert. Es gab keine Erben, also würde alles Brauchbare versteigert werden und der Erlös dem Staat zufallen. Was kümmerte es ihn noch?
Als er am Fuß der Stufen angekommen war, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass an seinem Briefkasten das grüne Lämpchen leuchtete. Hatte es heute Nachmittag schon gebrannt, als er nach Hause gekommen war? Sicher nicht. Es war Monate her, dass er das letzte Mal richtige Post gekriegt hatte. Wer schrieb denn noch richtige Briefe? Alles was Staat oder Ämter mitzuteilen hatten, wurde persönlich von Androiden überbracht. Er öffnete mit seinem Daumenabdruck den schwarzen Kasten und entnahm ihm einen kleinen weißen Umschlag, kleiner als eine Postkarte. Er war nicht adressiert oder sonst irgendwie beschrieben, jemand musste ihn persönlich eingeworfen haben. Den Briefumschlag in der Hand lief Tim zur Straße und hielt ein Taxi an. Lesen konnte er auch auf der Fahrt. Ein schwarzer Ford Mustang hielt geräuschlos vor ihm an, er ließ sich auf der Rückbank nieder und sagte dem Navigationssystem in langsamen und deutlichen Worten sein Ziel an, bevor er sich dem Umschlag widmete.
Der Brief enthielt nur einen kleinen Notizzettel in einer mädchenhaften Handschrift, die ihm seltsam vertraut vorkam. Darauf stand:

Lieber Tim,
ich habe mich vorhin sehr gefreut, dich mal wieder zu sehen. Du sahst traurig und sehr müde aus.
Ich liebe dich noch immer sehr, aber ich verstehe, dass du nicht mit einer Studentin zusammen sein kannst und respektiere das. Falls du mal einfach jemanden zum Reden brauchst, bin ich trotzdem immer für dich da, ich möchte nur dass du das weißt.

Ich hoffe sehr, dass es dir gut geht,
Anna

Die ganze Fahrt über starrte Tim auf den Zettel und las ihn mehrere Male durch. Drei Wochen. Seit drei Wochen fühlte er sich wie der letzte Dreck und keiner bekam davon irgendetwas mit. Niemand hatte ihn darauf angesprochen, ob es ihm gut ging oder sich gefragt, warum er kaum noch Termine wahrnahm. Und ausgerechnet Anna, die ihn seit Monaten nicht gesehen hatte, nahm mit einem Blick wahr, was keiner sonst, weder Kollegen noch Studenten, erkannt hatte. Auch wenn er sich nicht mit ihr zum Reden treffen würde, war es doch ein schönes Gefühl, dass es jemanden gab, dem er nicht egal war. Auch wenn er Anna nicht besonders nahe stand, dieser Brief bedeutete ihm etwas. Als sie vor der Praxis anhielten, einem einzeln stehenden weißen Haus, stieg Tim aus dem Taxi und steckte sich den Brief in die hintere Hosentasche. Er wollte ihn nicht wegschmeißen, dafür hatten die Worte ihn zu sehr berührt, einfach aus dem Grund, dass sie so persönlich waren. Weil sie wirklich ihn meinten.
Ein paar Minuten stand er dort auf der Straße und atmete tief durch. Es ging dem Ende entgegen. Er öffnete die weiße Eingangstür, die mit dem Logo des PSH verziert war, und trat ein.

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